„Ja, die Maßnahmen der Behörden sind sicher unverhältnismäßig. Aber irgendeinen Fehler muss Serebrennikov doch gemacht haben ...?“ So fragen sich viele Menschen, nicht nur im Einflussbereich russischer Staatsmedien. Auch in unabhängigen Zeitungen und Nachrichtenportalen heißt es, dem Regisseur werde vorgeworfen, öffentliche Mittel in Höhe von umgerechnet über einer Million Euro veruntreut zu haben. Das ist unrichtig. Dem Angeklagten wurde bis heute nicht auch nur die geringste persönliche Bereicherung nachgewiesen. Stattdessen ist jedem bekannt, dass Serebrennikov den an diese finanziellen Mittel geknüpften Auftrag des „Platforma“-Projekts vollumfänglich (und zudem höchst erfolgreich) realisiert hat. Es geht also gar nicht um die Hinterziehung dieser Summe, sondern um einen unterstellten Verstoß gegen bürokratische Abwicklungsregeln, sprich um die Umwandlung dieser Summe in Bargeld (die freilich, so beschreiben es Kenner der Szene, in russischen Theatern aus pragmatischen Gründen allgemein gängige Praxis sei).
Man muss wissen, dass Kirill Serebrennikov in allen seinen bisherigen Leitungsfunktionen die Übernahme geschäftsführender Vollmachten stets von sich gewiesen hat. Ihm war bewusst, dass seine künstlerische Arbeit Putins nationalistischen und orthodoxen Propagandisten seit Jahren ein Dorn im Auge war, er wusste, wie sehr ihn die gesellschaftliche Relevanz seiner Kunst persönlich gefährden konnte. Der Gedanke, er habe seinen Verfolgern durch die Veruntreuung auch nur einer einzigen Kopeke einen Vorwand zum Zugriff bieten können, ist daher eine Beleidigung nicht seiner Moral, sondern seiner Intelligenz.
Das von den Behörden eingeleitete Verfahren hat sein wahres Ziel, das mit Wahrheitsfindung nichts zu tun hat, bereits erreicht: Über Serebrennikov wurde noch vor dem Schuldspruch de facto ein Berufsverbot verhängt. Die Uraufführung seines
Nurejev-Balletts wurde sabotiert, er musste die Dreharbeiten zu dem Film
Kino abbrechen, die Endproben seiner Inszenierung von Puschkins
Kleinen Tragödien kann er nicht mehr persönlich leiten und seine Stuttgarter
Hänsel und Gretel-Inszenierung wurde ihm noch vor dem szenischen Probenbeginn aus der Hand geschlagen.
Russland versuchte so, die Realisation eines der künstlerisch wichtigsten Projekte der Oper Stuttgart unter der Intendanz von Jossi Wieler unmöglich zu machen. Die Oper Stuttgart kann und will daher nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Wir laden Sie ein, sich parallel zu den Proben und den Aufführungen von
Hänsel und Gretel nicht nur auf unserer Homepage über die Ereignisse zu informieren: In einer Retrospektive des bisherigen Opern-, Film-, Theater- und Ballettschaffens von Kirill Serebrennikov, in einer Ausstellung, die die Eskalation der staatlichen Gewalt gegen sein Schaffen nachzeichnet, in Vorträgen und Podiumsdiskussionen, in denen namhafte russische Künstler, Autoren und Kuratoren ein differenziertes Bild der Situation zeichnen. Das Programm der Veranstaltungsreihe "Im Fokus: Kirill Serebrennikov" finden Sie
HIER.
Das Moskauer Stadtgericht prüfte am 4. Dezember 2017 um 11:45 (Moskauer Zeit, 09:45 MEZ) den Einspruch der Anwälte aller Angeklagten des Falls „7. Studio“- darunter Kirill Serebrennikov – gegen die Haftverlängerung. Im Oktober wurde u.a. der Hausarrest von Kirill Serebrennikov bis zum 19. Januar 2018 verlängert und am 4. Dezember erneut bestätigt. Am 16. Januar und am 18. April 2018 erfolgte jeweils eine weitere Verlängerung des Hausarrests um 3 Monate - derzeit bis zum 19. Juli 2018.